STEREO TOTAL: Unterhaltungsmusik jenseits des Mehrheitsgeschmacks, mit der Anti-Diva Françoise Cactus und Brezel Göring, dem Meister der sanften Übertreibung

 

Wie fing eigentlich alles an? Überraschenderweise begann alles mit einem sehr strengen Regelwerk (wobei in den folgenden Jahren jede Regel mindestens einmal gebrochen wurde):

1. Kein Instrument darf mehr als 50 DM kosten (etwa 25 Euro, nach heutiger Schätzung)

2. Virtuosität sollte unbedingt vermieden werden

3. Texte in allen Sprachen – außer Englisch

4. Stilistische Einflüsse aus der Plattenkiste auf dem Flohmarkt

5. Strikte Vermeidung von allem, was dem “Zeitgeschmack” entspricht

6. Studioaufnahmen, die den technischen Standard unterschreiten

7. Keine grossen Plattenfirmen, sondern kleine Labels, die von Musikenthusiasten geführt werden …

 

Und wer – bitteschön – hat sich DAS ausgedacht? 1993 trafen sich vor einer Bäckerei in der Kreuzberger Adalbertstrasse, Françoise Cactus, die unüberhörbare Sängerin und Schlagzeugerin der französischen Garage-Rock’n’Roll-Formation “Lolitas” und der multi-nicht-Instrumentalist Brezel Göring, der mit den bruitistischen “Sigmund Freund Experience” bereits zweifelhaft aufgefallen war.

 

Vierspurkassettenrekorder, Analogsynthesizer, Schreibmaschine, Heimorgel, Chanson, sixties YéYé-beat, NDW, Rockabilly, Punkrock, Wendy Carlos und ein betörender französischer Akzent waren die Zutaten der ersten beiden Platten “Oh Ah” (1995) und “Monokini” (1997). Lieder wie “Schön von hinten” oder “Dactylo Rock” kombinierten den Françoise Cactus’schen Wortwitz mit anti-technoider Primitiv-Elektronik. Die folgenden Platten “Juke-Box-Alarm” (1998) und “My Melody” (1999) verschmolzen schmutziges 8-bit-Sampling mit blecherner Beat-Musik. Zu diesem Zeitpunkt hatten Stereo Total – mit einer oder mehreren Begleitmusikerinnen – Tourneen durch Europa, Japan und die USA gespielt.

 

Die grosse Veränderung kam mit der Platte “Musique Automatique” (2001), welche die Titel “Liebe zu dritt” und “Wir tanzen im 4-Eck” enthielt. Stereo Total traten ab jetzt nur noch als Duo auf und tourten 10 Jahre lang praktisch ohne Unterbrechung durch die ganze Welt und veröffentlichten nebenbei die Platten “Do the Bambi” (2005), “Paris Berlin” (2007) und “Baby Ouh” (2010) auf vielen kleinen internationalen Labels – z.B. Kill Rock Stars (USA), Bizarre (Brasilien), Silicon Carne (Mexiko), Avex (Japan).

 

Im Jahr 2011 begaben sich Stereo Total nach Los Angeles in ein Studio, in dem die Zeit radikal 1968 stehengeblieben war. Eine Extremerfahrung: man musste die Musik “live” aufnehmen – d. h. alle Instrumente wurden gleichzeitig eingespielt, inklusive des Gesangs – selbstverständlich gab es keine “UNDO”-Funktion wie an einem Komputer, aber auch “Overdubs” (das nachträgliche Hinzufügen von Spuren) war nur eingeschränkt möglich und meistens wurde einfach der erste Take benutzt. In einer Welt, in der absolute Perfektion technisch zu realisierbar ist, erschienen Spielfehler plötzlich als interessante Variation.

 

Nachdem Stereo Total bereits mehrere Radiohörspiele geschrieben und realisiert hatten (“Autobigophonie” 2005, “Patty Hearst” 2008) begannen sie Filmmusiken zu komponieren – meistens für fernöstliche Undergroundfilme (u.a. “Underwater Love” 2011 und “Ruined Heart” 2014).

 

2015 markierte einen weiteren entscheidenden Einschnitt: Françoise Cactus hörte auf, lediglich die Texterin, Komponistin, Schlagzeugerin und Sängerin zu sein, sondern sie war von jetzt ab auch noch die Produzentin und mischte die neue Stereo Total-Platte “Les Hormones”, die im Jahr 2016 erscheinen wird.

 

2015 erschien beim englischen Label Blow Up eine “Best-Of”-Werkschau. Ich zitiere zum Schluss noch einige aufschlussreiche Passagen aus den Linernotes der Platte:
Diese Platte, die Sie gerade in den Händen halten, ist unsere STEREO-TOTAL-Best-of. Wir haben uns diese Scheibe auch selbst einmal angehört und konnten nicht glauben, dass DAS das Beste sein soll, was wir in den letzten zwanzig Jahren zustande gebracht haben.
Unser erklärtes Ziel war es, Musik zu machen, die nicht perfekt, nicht professionell oder poliert klingt – das haben wir erreicht, diese Platte ist wirklich nicht perfekt. Allerdings gab es in den letzten zwei Jahrzehnten Aufnahmen, bei denen wir das Konzept der Imperfektion wesentlich präziser erfüllt haben.
Unsere Musik nennt sich “Underground Pop Musik” – also Musik, die so verführerisch wie Pop ist, allerdings nicht den Geschmack der Mehrheitsgesellschaft trifft.
Aber beginnen wir mit dem Anfang: 1992 – im Ostteil Berlins stehen in allen Straßen große Müllcontainer, in welche die Bevölkerung alles wirft, was sie an ihr früheres Leben im real existierenden Sozialismus erinnert: Schallplatten, Bücher, Fahnen, Kleidung, Möbel…
Das gab uns die Idee, uns musikalisch von der “Wegwerfgesellschaft” inspirieren zu lassen: wir benutzten Instrumente, die niemand sonst wollte, Casios, Vierspur-Kassetten-Recorder, billige Orgeln mit Begleitautomat … Auch stilistisch ließen wir uns von (zumindest damals) vergessener und abwegiger Musik inspirieren: Moog Synthesizer-Alben, französischer Beat, Easy Listening, dilettantischer Punk, Neue Deutsche Welle, Noise, Rockabilly …
Die Zusammenstellung “Yéyé existentialiste” enthält Lieder von 16 verschiedenen Alben, die von kleinen, über die ganze Welt verteilten Plattenfirmen veröffentlicht wurden. Diese Platten sind schwer zu finden und häufig längst vergriffen. Wir freuen uns, dass Blow-Up-Records diese Musik wieder zugänglich macht.
(Der letzte Satz dieses Pamphlets ist irgendwie nur auf Englisch verständlich lustig, deswegen zitiere ich ihn, so wie er auf der Plattenhülle steht.) Usually people say concerning our music: “I can’t get it.” Now they can switch to saying: “I don’t get it.”